8 Fragen an Ronald Lips

Ronald Lips ist stellvertretender leitender Jugendanwalt und gewährt uns in diesem Interview einen Einblick in die Aufgaben der Jugendanwaltschaft. Er erklärt, wie die Jugendanwaltschaft durch Ermittlungen, Strafbefehle und Schutzmassnahmen dazu beiträgt, die persönliche Entwicklung junger Menschen zu fördern und einer kriminellen Laufbahn entgegenzuwirken.

© Kantonspolizei Bern

Die kantonale Jugendanwaltschaft ist für Jugendliche zuständig, die zwischen dem 10. und dem 18. Lebensjahr mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Dabei übernimmt sie vielfältige Aufgaben: Sie führt Ermittlungen durch, erlässt Strafbefehle, ordnet Schutzmassnahmen an, vertritt Klagen vor Gericht und setzt sämtliche Strafen sowie Schutzmassnahmen um. Im Jugendstrafrecht stehen der Schutz und die Förderung der persönlichen Entwicklung im Fokus. Mit angeordneten Strafen und Massnahmen sollen eine kriminelle Laufbahn und weitere Delinquenz von Jugendlichen frühzeitig verhindert werden. Um diese Ziele zu erreichen, verfügt die Jugendanwaltschaft über einen eigenen Sozialdienst und arbeitet zudem eng mit externen Leistungserbringern zusammen. Gemeinsam klären sie den Unterstützungsbedarf der Jugendlichen ab und legen geeignete, auf die persönliche Situation abgestimmte Massnahmen fest.  

Im Gespräch gewährt uns der stellvertretende leitende Jugendanwalt, Ronald Lips, einen Einblick in die vielfältigen Aufgaben und Herausforderungen seines Berufsalltags.

Weshalb sind Sie Jugendanwalt geworden?

Meine Laufbahn in der Justiz hat im Herbst 2000 als juristischer Sekretär auf dem damaligen Jugendgericht Emmental-Oberaargau begonnen. Damals gab es noch keine Kantonale Jugendanwaltschaft; deren heutige vier Dienststellen waren noch in Form unabhängiger regionaler Jugendgerichte organisiert. Das letzte meiner Praktika fürs Fürsprecher-Examen (heute Anwalts-Examen) hatte ich im Winter 1999 beim damaligen Jugendgericht Bern-Mittelland absolviert und dabei Ziel und Zweck der Jugendrechtspflege, Schutz und Erziehung, als sehr gewinnbringend erlebt. Die Arbeit ist lebensnah und kann dem Leben junger Menschen, die sich in einer Sackgasse befinden, neue Perspektiven eröffnen. Als Teil eines Teams, welches die dazu nützliche Unterstützung leistet, erlebt man dabei eine persönliche Genugtuung.

Was mögen Sie am meisten an Ihrer Tätigkeit als Jugendanwalt?

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Strafverfolgung, Beurteilung sowie sozialer Arbeit stellt die Strafjustiz auf lebensnahe Weise in den Dienst der Entwicklung des Betroffenen, aber auch der gesamten Bevölkerung. Der Grundsatz Schutz und Erziehung ist nach Art. 2 des Jugendstrafgesetzes wegleitend für die Auslegung dieses Gesetzes. Dabei handelt es sich nicht einfach um ein Mantra, sondern um eine Überzeugung; und diese liegt unserer interdisziplinären Arbeit zugrunde. Konkretisiert wird dies im Alltag in der Zusammenarbeit der Jugendanwältinnen und -anwälte mit unserem Sozialdienst, welcher Teil des Jugendanwaltschaft-Teams ist. Damit ist es unsere Absicht, die beschuldigten Jugendlichen in mehr Fällen persönlich anzuhören, als dies für die reine Ermittlungsarbeit notwendig wäre. Denn das Interesse an ihrer Persönlichkeit und ihren Lebensumständen steht für uns im Mittelpunkt – ein Ansatz, der den regelmässigen Kontakt mit den Betroffenen sicherstellt.

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen der Jugendanwaltschaft und der Kantonspolizei Bern?

Die Zusammenarbeit empfinde ich als sehr gut. Den Angehörigen der Kapo ist unser Auftrag bewusst und die Vorgaben werden eingehalten. Während einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit, den Angehörigen der Kapo in der Polizeiausbildung im Rahmen des Fachs Jugendstrafrecht die Grundsätze und Handlungsweisen der Jugendanwaltschaft näherzubringen. Die rege Beteiligung und die teilweise auch kritischen Rückfragen aus den Reihen der Auszubildenden haben ihr Interesse an dieser Materie gezeigt. Entsprechende Rückmeldungen erhalte ich auch heute noch von meinen Nachfolgerinnen, welche aktuell diesen Kurs unterrichten.

Wie unterscheidet sich die Arbeit eines Jugendanwalts von der einer Staatsanwältin/eines Staatsanwalts für Erwachsene?

Im Unterschied zur Erwachsenenjustiz sind wir bei der Jugendanwaltschaft – gestützt auf das Bundesrecht – als untersuchende Behörde auch für den Vollzug der von uns erlassenen Strafen und Massnahmen zuständig. Dadurch erleben wir nicht nur mit, was mit den durch uns beurteilten Jugendlichen geschieht, sondern leisten dazu auch einen aktiven Beitrag, unterstützen die jungen Erwachsenen in ihrer Entwicklung bis längstens zur Vollendung des 25. Altersjahres. Oberstes Massnahmenziel ist immer der Verzicht auf weitere Delinquenz; konkretere Ziele wie eine berufliche Integration, Drogenfreiheit etc. sollen ihm oder ihr ein deliktfreies und dereinst selbstständiges, eigenverantwortliches Leben ermöglichen. Das Verfahren hört für uns also nicht mit dem Strafentscheid auf, sondern die Massnahmenfälle finden hier ihre Fortsetzung. Ein Massnahmenverfahren kann somit nicht nur unseren Sozialdienst, sondern auch die jeweilige Verfahrensleitung teilweise noch über mehrere Jahre beschäftigen. In diesen Fällen ist jederzeit mit einer Krise im Vollzug zu rechnen, auf die unter Umständen auch in einem nachträglichen Verfahren sofort reagiert werden muss. So bleibt unsere Arbeit abwechslungsreich.

Die Vielfalt dieser Tätigkeit ist gleichzeitig ein Privileg wie auch eine Herausforderung. Die Kontakte sind sehr unterschiedlich, sie reichen aufgrund dieser umfassenden Zuständigkeit von der Ermittlungsebene bis zum Vollzug. Die Jugendanwaltschaft verfügt, wie gesagt, zwar über einen internen Sozialdienst, gleichzeitig pflegen aber auch wir Jugendanwältinnen und -anwälte – zumindest bei Standortbestimmungen – Kontakte zu Vollzugsinstitutionen.

Welchen Herausforderungen begegnet die Jugendanwaltschaft in der nahen Zukunft?

Auch wir haben den Eindruck, dass die Täterinnen und Täter immer jünger werden, gerade solche Jugendliche, die ohne Eltern in die Schweiz eingereist sind, erhalten oft in den ersten Tagen oder Wochen wenig verbindliche Leitplanken und dies kann zu Delinquenz, meist Einbrüchen, führen. Auch die fehlende Aufnahmepflicht bei Institutionen, insbesondere für den Vollzug im geschlossenen Rahmen, hat sich in letzter Zeit vermehrt als problematisch erwiesen. Für dieses Fehlen mag es zwar gute Gründe geben und eine Änderung hätte wohl weitreichende Folgen, was sich in Vollzugsmodalitäten und nicht zuletzt auch bei den Kosten niederschlagen würde, dennoch ist es befremdend, wenn nach einem langen Untersuchungs- und Gerichtsverfahren ein Vollzug nirgends möglich ist und der oder die Jugendliche in Sicherungshaft auf einen möglichen Platz warten muss.

Welche Art von Fällen oder Problemen begegnen Ihnen am häufigsten in Ihrer Arbeit mit dem jugendlichen Klientel?

Wir stellen vermehrt fest, dass Eltern ihren Nachwuchs nicht mehr zur Einvernahme begleiten. «Verhindert, Arbeit» lautet meist die knappe Antwort der Jugendlichen auf unsere Frage nach den Eltern. Im Vollzug ist es äusserst wichtig, dass Behörden, Institutionen und Eltern am gleichen Strang ziehen – und dies beginnt mit Teilnahme und Absprachen. Fehlt dabei die aktive Rolle der Eltern, läuft der Vollzug deutlich harziger; sabotieren sie den Vollzug gar, ist man chancenlos. Erziehung und das Vermitteln eines Werteverständnisses sind und bleiben primär Aufgaben der Eltern. Daher gilt es stets, die Eltern in einem geeigneten Moment, am besten bei Verfahrensbeginn, anlässlich der polizeilichen Einvernahme zu einer Kooperation zu motivieren.

Gab es einen Fall, der Sie besonders positiv beeindruckt hat?

Grundsätzlich sind jene Vollzugsfälle die besten, in denen aufgrund einer raschen und entschlossenen Intervention innert weniger Jahre oder gar Monate ein nachhaltiger Entwicklungsschub erfolgt und die Massnahme dann auch rasch wieder beendet werden kann, am besten mit Blick auf die Volljährigkeit. Dass es auch länger gehen kann, hat mir ein Fall gezeigt, den ich über einen Zeitraum von weit über zehn Jahren im Vollzug hatte. Die Voraussetzungen waren zu Beginn in fast allen Bereichen denkbar schlecht, ressourcenorientierte Arbeit erwies sich als vergebliche Mühe. Abschliessen konnten wir das Verfahren nach etlichen Etappen dann trotzdem mit bestandenem Lehrabschluss und selbstständigem Wohnen. Der Grundsatz «Aushalten gibt Halt» hat sich hier bestätigt.

Unter uns: Ist die Arbeit mit delinquenten Jugendlichen manchmal belastend?

Ganz unter uns: nicht nur manchmal, sondern oft. Abhilfe schafft ein konsequenter, regelmässiger, wenn auch kurzer Austausch auf verschiedenen Ebenen, das heisst mit externen Partnern, aber auch in der Dienststelle und dort innerhalb der einzelnen Bereiche wie Sozialdienst oder Verfahrensleitung sowie unter meinen Berufskolleginnen und -kollegen. Befindlichkeiten werden abgeholt und Erfahrungen ausgetauscht. Für mich sind auch Weiterbildungen motivierend. Zum Glück bietet uns der Kanton Bern als Arbeitgeber in dieser Hinsicht zahlreiche Möglichkeiten.

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